© Hesselbarth | 2011

 

> Versuch eines Lexikons des vorbegrifflichen Denkens <

Einleitung



Wirklichkeitsaneignung


Manche Aspekte der Welt kann man nicht verstehen, man kann sie akzeptieren, sich an den Gedanken gewöhnen. So verhält sich unser Erkenntnisvermögen gegenüber Konzepten wie Unendlichkeit, Zufall, Zeitdilatation oder Vierdimensionalität: Wir haben weder eine Vorstellung noch Verständnis.

Unbestimmtheit, Nichtentscheidbarkeit oder Komplementarität widersprechen dem menschlichen Verstand in seiner Natur, weil sie nicht kausal sind. Für dieses Denken könnte eine adäquate Sprache noch gefunden werden. Neue Intuitionen müssen erst gebildet werden.

Mit der tief verinnerlichten Ausdrucksweise, die wider besseres Wissen besagt, die Sonne gehe im Osten auf, können wir umgehen. Wir leben mit der Trennung von kosmologischem Wissen und Redewendung. Für die physikalischen Erkenntnisse über die Dehnbarkeit von Zeit, die Krümmung des Raums, die Doppelnatur der Elektronen, dem Energiebegriff von Masse haben wir noch keine Intuitionen gebildet. Hier setzt die Aufgabe von Bildern an.

Die Ausdrucksform von Bildern ist Mehrdeutigkeit, Assoziativität und Unbestimmtheit. Sucht man eine geeignete Kognitionsmethode für die Fragen unserer Zeit, so findet man sie eher in Bildern als in Begriffen. Für ein Weltverständnis, das auf quantenphysikalischen Gesetzen basiert, sind evolutionsgeschichtlich verankerte Denkkategorien wie Kausalität oder Substantialität nicht mehr ausreichend.



Mögliche Synergien von Wissenschaft und Ästhetik


Das Bild ist eine Sprache, die versucht, die Welt zu beschreiben, ebenso wie Naturwissenschaft. Naturgesetze beschreiben die Regeln der Welt, Bilder zeigen die Welt in ihren Phänomenen. Beide erklären nicht. Erklären zielt auf die Warum-Frage, auf Zweck, Ursache und Bedeutung der Vorgänge. Das Akzeptieren von Fakten ohne Warum-Frage, ohne Deutung oder Werturteil widerspricht Gehirn immanenten Regeln. Bilder geben keine Antworten auf Warum-Fragen. Der ästhetische Blick ist der mit den Sinnen wahrnehmende, nicht-analytische Blick. Analyse, Begriffe und Wertungen verstellen diesen Blick auf die Gesamtheit. In der Nicht-Deutung ihrer Gegenstände sind Bild und Naturwissenschaft verwandt.

Der Mathematiker kommt nach sorgfältigen Beweisen zu dem Ergebnis, dass ein Sachverhalt unentscheidbar ist. Der Künstler kann dafür sorgen, dass Menschen mit dieser Aussage leben können.

Ästhetik schafft Zugang durch Nähe, also die psychische Konstellation, die Bereitschaft erwirkt, sich einer unvermeidlichen Erkenntnis „zuzuneigen“.


Oft wird in der Wissenschaft von Theorien gesprochen, die von besonderer Schönheit oder Eleganz seien. Dahinter steht die Vorstellung, dass Harmonie und Ordnung für den menschlichen Geist eine besondere Überzeugungskraft besitzen, die nicht rationalisierbar ist.

Der Begriff Ästhetik meint aber nicht immer Harmonie. Erstrebenswert wäre eine objektive ästhetische Haltung, die das anthropozentrische Streben möglichst vermeidet, natürlichen Phänomenen Vollkommenheit, Symmetrie und Regelmäßigkeit zu oktroyieren und zufällige Variablen zu eliminieren zugunsten einer harmonischen Gesamterscheinung.


Physiker wie Albert Einstein und Richard Feynman schildern eigene Erfahrungen von vorbegrifflichen, visuell-räumlichen Vorstellungen oder Bildern, die ihren Erkenntnissen und Theorien vorausgehen.

Mit dem Begriff „Bilder“ sind hier nicht nur zweidimensionale Bildwerke gemeint. Es können abstrakte Formenkonstellationen sein, räumliche Gefüge, Kräfte- und Größenverhältnisse, Zuordnungen, Beziehungen, Wesenseigenschaften von Gegenständen oder Lebewesen, Verhalten oder Prozesse, aber auch mentale Erlebnisqualitäten wie z.B. Leichtigkeit, Abhängigkeit, Druck, Ordnung u.a.